Zu Besuch beim Christkind in Cadenazzo

2022-12-21 17:01:17 By : Ms. Ruth Lin

Seit über 70 Jahren werden Briefe an das Christkind nicht mehr zurückgeschickt. Weihnachtswichtel beantworten jeden Brief. Das macht die Kleinen glücklich – und bietet der Post Gelegenheit zur Imagepflege.

Eine Reise in den Süden hält manchmal Antworten bereit, die man im Mittelland schwerlich findet. Der Weg führt nach Cadenazzo, in ein dösendes 3000-Seelen-Dorf, dessen prestigeträchtigste Rolle es ist, ein Durchgangsbahnhof zu sein: Für Menschen, die seit der Inbetriebnahme des Ceneri-Basistunnels hier umsteigen. Für Pakete, die seit der Eröffnung des SBB Cargo Terminals hier umgeladen werden.

Wer ankommt, ist bald wieder weg. Nur die Tausenden Briefe nicht, die Kinder Jahr für Jahr aus allen Winkeln der Schweiz an das Christkind, den Père Noël oder den Babbo Natale adressieren. Für sie endet hier die Reise. Denn die «Himmelspforte» befindet sich genauso in Cadenazzo wie der «Sternenweg» oder die «Wolkenstrasse». Das Dorf ist nicht nur Zwischenstation auf dem Weg nach Süden, sondern auch Anflugschneise ins Märchenland.

Seit Jahrzehnten verschicken Kinder in der Adventszeit Briefe, die ans Christkind oder den Weihnachtsmann adressiert sind. Zunächst wurden die Sendungen mit dem Vermerk «Empfänger unbekannt» retourniert. Seit 1950 werden sie ins Tessin weitergeleitet, zur zentralen Fundstelle der Post. Während Jahren lag diese in Chiasso, im Jahr 2020 wurde sie nach Cadenazzo verlegt.

In den 50er-Jahren trafen jährlich etwa 450 Weihnachtsbriefe ein. Ein bis zwei Personen kümmerten sich damals um die Zusendungen. Seither ist die Zahl stetig gewachsen. In den 80er-Jahren flatterten 1800 Briefe rein, 2004 bereits 17'522. Letztes Jahr wurde mit knapp 36'000 Zusendungen ein neuer Rekord erreicht.

An einem der Pulte, die in U-Form angeordnet sind, sitzt Ruth Crotta, randlose Brille, Aargauer Dialekt. Gerade noch liess sie ihren Brieföffner routiniert durch die Papierkanten gleiten. Der Arbeitsplatz der 58-Jährigen befindet sich im Obergeschoss eines Gebäudes, unweit des Bahnhofs. In einem Raum, der mit «Stella del Sud» beschriftet ist, Südstern, und in der Adventszeit zum Weihnachtsatelier wird.

Man ahnt bald, dass in diesem Raum kein Dienst nach Vorschrift verrichtet wird. Mit dem Klischee der kühlen Beamtenstube hat die Einrichtung wenig gemeinsam. An einer Leiter baumeln Christbaumkugeln, vor den Fenstern hängen Kinderzeichnungen, die Stuhllehnen sind mit Samichlausmützen überzogen, und am Stiftehalter glitzern Schneeflocken. «Ein festliches Ambiente ist uns wichtig», sagt Ruth Crotta, die Ende November in ihre zweite Saison als «Postwichtel» startete. Und die ersten Stunden traditionell mit Dekorieren verbrachte.

Ruth Crotta zieht einen Brief aus dem Umschlag. Es ist eine Einladung für den Nikolaus – zur «Superhelden-Party» bei McDonald's. Sie schmunzelt. In einem anderen Schreiben wünscht sich ein Mädchen, der «Weihnachzmann» möge ihr seine Fabrik zeigen – und «den Elfen, dem Osterhasen, dem Christkind, der Zahnfee, Rudolph und allen anderen» einen Gruss ausrichten.

Kinder, die schon schreiben können, verfassen ihren Brief selber. Manche notieren das Alter, wobei es sich durch die krakelige Schrift und die Rechtschreibung erahnen liesse. «Die Briefe sind voller Fehler – und dadurch umso sympathischer!», findet Ruth Crotta.

Überhaupt scheuen die Kinder keinen Aufwand: Fast alle Couverts sind bemalt oder mit Aufklebern verziert. Es liegen Zeichnungen bei oder weitere Geschenke: Baumschmuck aus Knete, Kunststoff-Figürchen, Perlenkreationen oder Panini-Bilder. Kürzlich fischte Ruth Crotta sogar eine Fünf-Euro-Note aus einem Umschlag.

Im Gegenzug wünschen sich die Kinder vom Christkind Pferde, Barbies, Dinosaurier, Klaviere, Rollschuhe oder die neusten Sneakers. Und immer wieder Legos. Manche schicken eine Liste, andere schneiden ihre Objekte der Begierde aus dem Spielwarenkatalog aus.

Zwischen bunten Buchstaben schimmert in den Briefen der soziale Hintergrund durch. Besonders berührt haben Ruth Crotta jüngst die Zeilen von zwei Schwestern. Eine wünschte sich ein eigenes Bett, die andere ein eigenes Zimmer. Beide wären dankbar um neue Kleider.

Letztes Jahr hofften viele Kinder, die Pandemie möge aufhören, dieses Jahr haben sie Angst vor dem Krieg. Sie wünschen sich Frieden und ihrer Familie Glück, und dass es den Grosseltern im Himmel gut geht. Dass die Hänseleien in der Schule aufhören, und dass Papa nicht mehr arbeitslos ist. Dass er und Mama wieder ein Paar werden.

Es sind meistens gerade jene Wünsche, die nichts kosten, die unerfüllt bleiben.

Geschichten zu den Briefen ans Christkind sind nicht nur beliebt – die Post erzählt sie auch gern. Regelmässig informiert sie die Medien und erinnert auf ihrem Blog an das spezielle Angebot. Das Geheimnis, das sie um ihren Briefservice kreiert hat, ist vielleicht das letzte Stück heile Welt, das sie in das effizienzgetriebene Zeitalter der Digitalisierung gerettet hat.

Das Bild des Wichtels, der für jedes der 36'000 Kinder eine Antwort verfasst – es ist auch das Bild des Grosskonzerns, der sich noch immer Zeit nimmt für jeden einzelnen Kunden. Die Post kuratiert es mit Bedacht: Die Mediensprecherin redet gerne vom «Zauber», der bewahrt werden solle, wenn sie zur Bedingung macht, die Arbeitsabläufe ihrer «Wichtel» dürfen im Artikel nicht detailliert beschrieben werden. Oder wenn sie im Tonfall des Texts ein «Augenzwinkern» anregt. Während des Gesprächs weicht sie Ruth Crotta kaum von der Seite, die mehrmals nachfragt, ob sie dies oder jenes verraten dürfe. Märchenwelt im PR-Korsett.

Tatsache ist auf jeden Fall: Jedes Kind erhält auf seinen Brief eine standardisierte, vorgefertigte Antwort. Ob diese in Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch ausfällt, hängt davon ab, ob es dem Christkind, dem Père Noël, dem Babbo Natale oder gar dem Santa Claus geschrieben hat. Auch Geschwister, die im Brief erwähnt werden, dürfen sich über ein Schreiben freuen.

Allerdings gibt es Ausnahmen: Briefe, bei denen die Kinder hingebungsvoll basteln und schreiben – und dann keinen Absender hinterlassen. In solchen Fällen versuchen Ruth Crotta und ihre sieben Kolleginnen, die Adresse anhand der Hinweise im Brief herauszufinden. Bei knapp zehn Prozent bleibt die Suche ergebnislos. «Das tut uns immer total leid», sagt sie.

All die Wünsche, die die Kinder Jahr für Jahr an Christkind, Père Noël, Babbo Natale oder Santa Claus haben: Ruth Crotta kann sie nicht erfüllen, trotz ihrer «Wichtel»-Rolle. Doch sie kann ihnen mit der Antwort eine Freude bereiten. Und auf die Eltern zählen, die bestimmt auch noch einen Blick auf den Wunschzettel erhascht haben, bevor sie mit dem Sohn oder der Tochter den Umschlag zugeklebt haben.